Zwischen den Stühlen

 

Manchmal scheint mir das Ticken der alten Wanduhr so langsam. Bedächtig. Die Zeit lullt mich ein in das Gefühl, dass ich noch unendlich viel davon übrig habe.

Doch sie lügt. Sie vergeht. Unaufhaltsam geht sie mit hoch erhobenem Kopf selbstsicher und unbeeindruckt immer weiter. Die Zeit lässt sich nicht überreden oder bestechen.

 

Und manchmal schafft sie dieses ruhelose Gefühl in mir. In Momenten wie diesem. Tagen wie diesem 31. Dezember. Es ist die Zeit des Jahres, in der man zwischen den Stühlen sitzt. Unbequem. Unschlüssig, ob man sich noch dem Alten oder schon dem Neuen zugehörig fühlen soll.

Die Zeit hinterlässt ihre Spuren, wo auch immer sie gewesen ist. Zieht ihre Linien durch mein Gesicht, liegt auf der abgewetzten Lehne des Sofas. Knistert in den verwelkten Blättern draußen. Schimmert im zersplitterten Glas der alten Wanduhr. Ein Erbstück. Vorsichtig öffne ich das zerbrechliche Glas und streiche behutsam über die betagten Zeiger.

 

Nur noch wenige Stunden bis zum Jahreswechsel. Oft habe ich in ausgelassen feiernder Gesellschaft dem Augenblick entgegen gefiebert, das neue Jahr zu begrüßen. Nahm die Zeit kaum wahr, wenn sie in unsere feucht-fröhliche Runde trat und in ihre Taschen stopfte, was nun Vergangenheit war. Beschluss eines Jahres, das wir gelebt hatten, jeder auf seine Weise. Und unbemerkt entwand sie die Hoffnungen und Möglichkeiten dieses Jahres unserem Griff und verwandelte Gegenwart in Vergangenheit.

Niemand im Raum fühlte sich bestohlen oder um etwas Wertvolles gebracht – ach, wir jungen Unbeschwerten hatten doch mehr als genug an Jahren. Und die Gläser klirrten und unser Gelächter war laut und betrunken und wir schauspielten unbekümmert zeitlose Wesen, während die Tür leise hinter der Zeit ins Schloss fiel.

 

Mein Leben ist in die Jahre gekommen. Nicht mehr jung, auch noch nicht alt, doch mit Einsicht wie schnell das Leben an Grenzen stößt und einer Ahnung vom Hauch des Todes. Nun suche ich an Tagen wie diesen letzten Jahresmomenten Stille statt heiterer Party-Gesellschaft, Weisheit statt flotter Trinksprüche. Ein Stück Leichtfertigkeit ist gegangen, Ernsthaftigkeit ist geblieben. Und die Sehnsucht nach dem einen Zeitlosen, der mir sicher ist, während ich zwischen den Stühlen des Alten und Neuen schwanke, zwischen Wehmut und neuem Abenteuer, Liebgewordenem und Ungewissem.

Er, der Ewige, hat hier schon gewartet. Um mich zu erinnern, dass wir beide seine Geschöpfe sind.

Er schuf die Zeit, um Anfang und Ende zu bestimmen. Und schuf mich, um alles was zwischen den beiden liegt, zu füllen. Was er mir in meine Tage legte, nannte er nicht Existenz. Oder Warten. Oder Stress. Oder Vergeudung. Sondern Leben.

Anfang und Ende von ihm bestimmt sind die Säulen meines Seins, umspielt vom Meer meiner unendlicher Möglichkeiten.

Leben ist der stürmische Wind, der mich beinahe umbläst. Kindertränen trocknen. Hoffnung wachsen sehen. Mit offenem Mund zu staunen. Abschiede, die das Herz brechen und Kaninchen, die über den Waldweg hoppeln. Sonnenaufgänge, die einem den Atem stocken lassen und versöhnter Waffenstillstand. Ein Baum voll rosa Kirschblüten. Glitzerndes Schneetreiben und Lachen, bis einem die Tränen kommen. Gänsehaut-Momente. Versagen und Aufbruch. Verzweifelte Gebete und majestätische Berggipfel. Freiheit einatmen. Unerfüllte Sehnsucht und Sommerwiesen. Liebeserklärungen. Herzschmerz und eine Tasse heiße Schokolade.

All dies will ich voll auskosten, erdulden, genießen, aushalten und umarmen. Ich will die Zeit als Freund und Lehrer zugleich verstehen, denn sie weiß, dass ich nicht ewig bin. Sie wird mich finden, jedes Jahr wieder und meine vergangenen Tage in ihre Taschen raffen.

 

Doch ich will ihr nur eine leere Hülse zurücklassen. Leidenschaftlich leben will ich und meine Überzeugungen nicht nur verschämt flüstern, sondern so laut hinausschreien, dass ihr Echo meine Zeit überdauern wird. Dem Obdachlosen eine Nacht im Luxus-Hotel bezahlen und dem Einsamen die Hand halten. Geschenke außer der Reihe verteilen und dem Missmutigen im Bus ein Lächeln schenken. Ich will dem Gefangenen helfen seine Zelle sonnengelb zu streichen und „Ich liebe dich!“ in der Sprache der Migranten Kinder in meiner Nachbarschaft lernen. Ich will nach Paris fahren, nur um eine Bibel auf die Brüstung des Eiffelturmes zu legen. Mit der ausbezahlten Lebensversicherung eine riesige Party feiern. Mit den Alten tanzen und mit den Jungen ein Stück Weg gehen. Beten ohne aufzuhören. Großzügig leben und so groß träumen, dass es mir Angst macht.

Danke, du großer Zeitloser. Ewiger Gott. Du lehrst mich dass dein wahres Geschenk nicht Zeit ist, sondern Leben. Nicht Jahre, sondern Fülle.

 

Ich weiß, es wird nicht ewig so weitergehen. Und wenn die Zeit dann zum allerletzten Mal vor meiner Tür stehen wird, dann wünsche ich mir ein leergelebtes und sattes Herz. Ich würde die Zeit gerne mit einem Lächeln empfangen. Mit einer Karte voll Dank, hinten und vorne eng beschrieben. Für all das, was zwischen erstem Schrei und Totenbett an Lebenswertem lag.

Die Ewigkeit, die schon jetzt als Ahnung tief in mir schlummert, wird mit dem letzten irdischen Herzschlag zum Leben erwachen. Und sollte ich in meinem himmlischen Zuhause wieder eine alte Wanduhr besitzen, werde ich die Zeiger beliebig vor und zurück drehen und wissen – es wird für alle Ewigkeit keinen Unterschied mehr machen.

 

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