Als Hilda Gott auf der Kellertreppe traf
Der Himmel war regenverhangen und es gab kein zusammenpassendes Paar Socken mehr. Hilda Rosenkranz seufzte und wollte schon in der ersten Stunde des Tages den Mut verlieren. Die Zahnpastatube war über Nacht offen gestanden und der Mund voll verkrusteter Bröckchen. Die Milch schien alle, der Kaffee zu schwarz. Die Schuhe fühlten sich noch unangenehm feucht an vom Regen gestern und der einzige Mitfahrer an der Haltestelle müffelte aufdringlich nach ungewaschen. Im Büro versuchte sie gute...

Von meiner Mutprobe zurückzukehren
Das Fernweh schien mir in die Wiege gelegt worden zu sein. Die bürgerliche Kleinstadt war schnell zu eng für große Träume. Aus mir würde keine schwäbische Hausfrau werden. Ich wollte anders leben. Und so tat ich es. Mit der Hoffnung die Welt zu verbessern durchstreifte ich Litauen, lebte zwischen den blinkenden Kanälen des Amsterdamer Rotlichtviertels, schenkte asiatischen Straßenkindern meine Aufmerksamkeit, kämpfte mit Kakerlaken, predigte in Gefängnissen und hielt die Hand...

Der unverschämte Gott
Gott kommt in einer unheilen Nacht. Legt sich völlig nackt und blutverschmiert auf ein Häufchen Stroh. Etwas sträubt sich in mir und will rufen: „Um Himmels Willen, Gott! Das ziemt sich doch nicht für dich!“ Doch Gott ist keiner, der seine Meinung wegen mir ändert. So hat er entschieden und schämt sich nicht dafür. Und dann nach ein paar Jahrzehnten geht er, genauso nackt wie er gekommen ist. Erstickt hüllenlos an einem Folterinstrument. Ebenso blutverschmiert. Und wieder will etwas...

Herr Karg bekommt eine Weihnachtseinladung
Ratlos drehte Herr Karg den feuchten Briefumschlag in den Händen. Wer schrieb denn heutzutage noch Weihnachtskarten, der Gang zum Briefkasten schien die letzten Jahre wie eine weitere sinnlos gewordene Tradition. Jetzt schickten die Kinder eine knappe WhatsApp mit ein paar festlichen Emojis darunter. Als würde das den Weihnachtsbaum ersetzen oder den Besuch. Der Absender war unleserlich verschmiert. Herr Karg riss den Umschlag auf. „Lieber Karl-Heinz“, stand da in steiler Handschrift:...

Klitzeklein und übermächtig begleitet dieses Virus meine Tage schon seit viel zu lange Zeit. Und ich bin so müde wie jeder andere. Gelangweilt von der alten Leier, will sie nicht mehr hören und mir die Finger in die Ohren stopfen. Bin müde der Hiobsbotschaften und Schreckensnachrichten und fake news. Müde, nicht sein zu können, was ich bin. Müde der abgesagten Vorfreuden auf meinem Kalenderblatt. Müde aller tagtäglichen Ausnahmezustände, die meine Flexibilität überstrapazieren....

Mitten in dieser Krise geschah noch etwas, das mich in die Grundfesten erschütterte. Ich habe es genauso wenig kommen sehen wie Corona. Ich bin gestern Morgen um 8.30 Uhr aufgewacht. Was?! Ich sprang panisch aus dem Bett, musste ich doch davon ausgehen, dass meine Kinder entführt worden waren. Denn seit einem halben Dutzend an Jahren weckt mich entweder Kindergeschrei, einer der Frühstückshunger hat oder mir die Nase zuhält und das spätestens um 6.00. Jetzt war es zweieinhalb Stunden...

„Ostern wird dieses Jahr anders sein“, sagt Angela Merkel in ihrer Rede zum Volk. Nicht so, wie wir es gewohnt sind. Wie es vertraut ist. Immer wieder muss ich meinen Kindern versprechen, dass Ostern nicht ausfällt und wühle mich panisch durch die Kellerschubladen nach Eier-Färberesten vom Vorjahr. Ostern fällt nicht aus, auch wenn der Oma-Besuch verschoben ist, für die Osternester nur drei dürre Büsche im heimischen Garten zur Verfügung stehen und ich heimlich immer wieder online...

Die Straßen sind menschenleer. Im Garten höre ich nur Vogelgezwitscher. Der Alltag schweigt und hat Langeweile. Der Spielplatz liegt verwaist und die Baustelle nebenan ruht. Noch nie war es um mich so gespenstisch still. Und noch selten so unerträglich laut. Denn die Nachrichten schreien durcheinander, die Zahlen überschlagen sich. Selbst die jahrelangen Schweiger posten und twittern auf Social Media. Die virtuellen Drähte laufen heiß mit ungehörten Neuigkeiten. Statistiken aus aller...

Liebes Corona-Virus, ich wünschte, ich hätte deine Bekanntschaft nicht gemacht. Schon einige Zeit bevor du in unsere Nachbarschaft gezogen bist, kannte ich dich vom Hören-Sagen - und belächelte dich. Amüsierte mich über Asiaten im Mundschutz und die Abriegelung fernöstlicher Millionenstädte. Ich hatte keine Ahnung. Zwischen uns lagen Welten und im Schoß des deutschen Gesundheitssystems wiegten wir uns in Sicherheit. Nahmen einen Schluck aus deiner Bierflasche und dachte wir wären weit...

Frau Hugendubel ist wahrhaftig kein Morgenmensch. Jeden Morgen hat sie einen Moment völligen Unglaubens, in dem sie sich fragt, ob das tatsächlich das Morgengrauen sein kann, das durch den Rollladen blinzelt. Und während ihr Mann Operetten singend unter der Dusche den Tag begrüßt, schleppt sie sich mit hängenden Schultern auf den letzten Drücker ins Bad, und versucht blinzelnd ihre Zahnbürste zu ertasten. Morgenstund‘ hat für sie selten Gold im Mund, vielmehr den fahlen Geschmack von...

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