Herr Karg bekommt eine Weihnachtseinladung

 

 

Ratlos drehte Herr Karg den feuchten Briefumschlag in den Händen. Wer schrieb denn heutzutage noch Weihnachtskarten, der Gang zum Briefkasten schien die letzten Jahre wie eine weitere sinnlos gewordene Tradition. Jetzt schickten die Kinder eine knappe WhatsApp mit ein paar festlichen Emojis darunter. Als würde das den Weihnachtsbaum ersetzen oder den Besuch.

 

Der Absender war unleserlich verschmiert. Herr Karg riss den Umschlag auf. „Lieber Karl-Heinz“, stand da in steiler Handschrift:

 

„Komm und feier mit uns. Gott.“

 

Und am Rand stand eine gekritzelte Adresse: Julius-Allee 7A.

 

 

Wütend knüllte Herr Karg das Blatt Papier zusammen. Sollte das ein Witz sein?!

 

Es würde sein wie die letzten Jahre auch. Microwellen-Dinner um 7. Etwas fernsehen. Und früh den Rollladen herunterlassen. Er wollte die Feier-Lichter in den anderen Wohnzimmern nicht sehen.

 

Er sortierte die Wäsche und wusch die Besteckschublade aus. Doch seine Augen suchten immer wieder das Papierknäuel im Müll. Schließlich gab er nach, fischte den Brief wieder heraus und glättet ihn. Las die Zeilen noch einmal.

 

Gott schrieb keine Weihnachtseinladungen. Soviel war sicher.

 

 

Der Nachmittag verging, der Abend dämmerte. Der Brief lag auf dem Küchentisch.

 

Um 7 gab es Ente. Aus der Mikrowelle. Er hatte extra einen Euro mehr bezahlt für die Fest-Edition. Es schmeckte scheußlich, selbst für einen Anspruchslosen wie ihn.

 

Schließlich wusch er seine Gabel, faltete den Brief zusammen und stopfte ihn in die Hosentasche. Er nahm die Jacke vom Haken und ging aus dem Haus. Draußen war dichtes Schneegestöber. Die eisige Luft biss ihn in die Wangen.

 

Es waren ungefähr 14 Minuten zu Fuß bis zur Julius-Allee. Sein Blick suchte im Dunkeln nach den Hausnummern.

 

Es gab keine 7A. Nur 7 und 9, dazwischen duckten sich vier heruntergekommene Garagen. Er hatte es doch gewusst, jemand hatte sich einen Scherz erlaubt.

 

Herr Karg lehnte er sich gegen das linke Garagentor und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jacke. Scharf und ärgerlich blies er den Rauch ins Dunkel.

 

Ein Kind weinte. Himmel. Er hätte schwören können, es kam aus der Garage. Er stieß mit dem Fuß gegen das Tor.

 

Die Tür öffnete sich fast augenblicklich und er fuhr erschrocken zurück. Die Haut der Frau war so schwarz, dass im Dunkel nur ihre Augen zu sehen waren. Sie winkte ihn aufgeregt herein.

 

Er lehnte im Türrahmen der zugigen Garage.

 

Um einen alten VW Bus mit platten Reifen scharte sich eine kleine Traube Menschen. Sie steckten die Köpfe durch die zurückgeschobene Bustür. Er drängte sich neben sie, um einen Blick ins Innere zu erhaschen. Dort lag auf dem Rücksitz ein Mädchen. Vielleicht 14 oder 15. Sie sah aus wie eine der jungen syrischen Flüchtlingsfrauen aus dem Nachbarblock. In den Armen hielt sie ein winziges Kind. Die Jacke unter ihr war blutverschmiert. Vor Erschöpfung fielen ihr immer wieder die Augen zu. Das Kind musste gerade erst geboren worden sein. War sie Eine von der Straße? Eine Obdachlose? Die billigen Stiefel am Boden sahen abgerissen aus.

 

Der Mann neben ihr schien ihr Freund zu sein und ebenfalls nicht von hier. Er wirkte etwas überfordert mit der Situation. Wahrscheinlich arbeitete er auf dem Bau, dachte Herr Karg, als er die groben Handwerkerhände betrachtete, die dem Kind schüchtern über den Kopf strichen.

 

Herr Karg blickte auf das Kind. Es lag dort ganz still, in eine alte Decke gewickelt. Plötzlich schlug es die Augen auf. Herr Karg zuckte zusammen. Das Kind hielt seinen Blick fest, als suche es etwas. Oder wolle ihm etwas geben.

 

 

Ein blechernes Scheppern ertönte an der Garagentür. Ein eisiger Windzug blies herein. Er wurde unsanft zur Seite geschoben. Mehrere Männer in Arbeitshosen drängten sich um den Bus. Ach, das waren doch Herr Eiffel, Egon und Franz vom Recycling Center?! Und die zwei Jungen aus Rumänien. Mit denen hatte er vor der Frührente Schicht geschoben. Sie waren ungehobelte Kerle, fluchten und erzählten ausschließlich ordinäre Witze. Er hatte sie trotzdem vermisst. Die Nase trügte nicht. Man nahm den Gestank immer mit nach Hause. Auch eine Dusche wusch ihn nie ganz ab.

 

Egon bemerkte ihn. Doch Herr Karg legte ihm nur wortlos die Hand auf die Schulter. Er war vom Blick des Kindes völlig durcheinander. In seinen Augen schwammen Tränen und in seinem Innern rumorte es, als würde sein Herz herausspringen wollen.

 

 

Ein weiterer Luftzug wehte auch noch die Reiki-Therapeutin aus der Friedrich-Meinl-Gasse und zwei ihrer asiatischen Schülerinnen herein. Die beiden neigten immer wieder ehrfürchtig und sprachlos den Kopf in Richtung des Kindes. Eine legte eine Kiste Tarot-Karten in den Türrahmen des Busses. Die Dose war mit Sternzeichen verziert. Die andere kramte eine Tüte Räucherstäbchen heraus. Was sollte denn das Kind damit, wunderte sich Herr Karg. Aber er sah ein Leuchten in den Augen der beiden, als hätten sie ein bedeutendes Geschenk gemacht.

 

 

Herr Karg kramte nach seinem Handy. Er wollte irgendwie diesen erstaunlichen Moment festhalten, an dem sie alle nicht wussten, wie ihnen geschah. Das Bild war völlig überbelichtet.

 

Plötzlich hob einer in der Garage die Stimme und sang mit rau gerührter Stimme ein Weihnachtslied. Und ein paar andere stimmten ein. Es war kein Engelschor, aber das Kind schlief trotzdem ein.

 

 

Als Herr Karg irgendwann später wieder auf der Straße stand, war alles wie immer. Es roch nach Katzenpisse und den Alkohol-Resten im Glascontainer.

 

 

Am nächsten Morgen überlegte er Mathilda anzurufen. Ihr von dieser unglaublichen Nacht zu erzählen. Aber Mathilda würde wahrscheinlich nur die Augen rollen und sagen: „Papa, was ist denn das für eine absurde Geschichte?!“ Und dann fragen: „Hast du schon die Miete bezahlt?“ Das hatte er in letzter Zeit immer wieder mal vergessen.

 

So ließ er es sein.

 

Bei seiner Tasse Nachmittagskaffee musste Herr Karg plötzlich lachen. Vielleicht war er ja verrückt. Oder Gott verschickte tatsächlich Weihnachts-Einladungen. Was auch verrückt wäre. Und in seinem Innern rumorte die Freude unbändig weiter.

 

Und weil er eine halbe Stunde später immer noch lachte, nahm er sein Handy und verschickte an alle Kontakte das überbelichtete Bild vom Kind auf der Rückbank und schrieb darunter: „Hey, gute Nachricht für euch alle: Ein Kind wurde geboren!“ Dann drückte er auf SENDEN.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Stachelbeermond (Donnerstag, 06 Mai 2021 12:43)

    Eine ganz wunderbare Neuerzählung, vielen Dank! :)