Eine deutsche Eigenart

 

 

Irgendwie hat ja jedes Land gewisse Eigenarten. Manchmal muten sie schon fast wie nationale Unarten an.

 

Eine deutsche Unart finde ich, jemand nur für qualifiziert zu halten, wenn derjenige das entsprechende Blättchen Papier in seinem „Wichtige-Dokumente-Leitzordner“ säuberlich sortiert vorweisen kann. Und somit aller Welt sichtbar bescheinigen kann, dass er ein Profi ist.

 

 

Nun bin ich ja nicht auf den Kopf gefallen und verstehe, dass damit so etwas wie eine gewisse Qualitätskontrolle gewährleistet ist. Dass Herr Zahnräder, mein lokaler Elektriker sich auch tatsächlich mit Kupferdrähtchen auskennt. Und Sanitätshaus Meyer mit Omas Kompressionsstrümpfen.

 

 

Aber manchmal steht uns die Bürokratie, für die wir in aller Welt entweder beliebt oder verschrien sind, auch ganz schön im Weg. Da komme ich mit einem angeheirateten BWLer vor zwei Jahren ins Heimatland zurück. Der hat damals, als es drauf ankam, seine Virtuosen-Hände leider schüchtern in die Tasche gesteckt und dafür leidenschaftslose Zahlen studiert.

 

Dann hielt er es doch nicht aus, und - in einem Land, wo der „Ich-hab-das-gelernt“- Schein keine wichtige Rolle spielt – begonnen, zum Tanz aufzuspielen, die Kinder zum Komponieren zu bewegen und bei den Großen den Ton anzugeben. Die Finger hüpften klangvoll über die Tasten, während in feinen Restaurants die Gäste ihre Suppe schlürften. Auf dieser Insel konnte man damit eine goldene Nase verdienen, hier in der Heimat seufzt der Herr beim Arbeitsamt (im karierten Sakko und ohne erkennbaren Humor): „Schwer vermittelbar.“ („Was hat der eigentlich gelernt?“ will ich mich empören, doch ich weiß genau, das hat alles seine deutsche Richtigkeit, sonst würde er nicht auf diesem Stühlchen sitzen. Und so beurteilt er weiterhin ungeniert die Unqualifizierten und die Überqualifizierten. Denn sein Schein bescheinigt ihm, dass er das gut kann.)

 

 

Und meine bessere Hälfte schleicht wie ein geprügelter Hund aus der karierten Sakkozone und denkt ernsthalt darüber nach, wieder leidenschaftslose Zahlen hin und her zu schieben. Doch wie das oft so ist: immer wenn du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Heute ist er wieder ein glücklich Singender. Weil einer des Weges kam und bereit war zu glauben, dass Begabung und Können nicht an einem Stück Papier hängt. Gott seid Dank.

 

 

Auch ich besitze einen fettleibigen „Wichtige-Dokumente-Leitz-Ordner“. Er bescheinigt mir und jedem der es wissen will: Was ich kann, sind Kinder und Gott. Pädagogik und Theologie. Ganze 7 Jahre habe ich mein Hirn mit den entsprechenden Informationen gefüttert.

 

Und während mir der übergewichtige Herr Leitz anerkennend zunickt, tobt die Realität durch mein Leben, samt zwei Kleinkindern, und führt mich an die Grenzen. Und das obwohl ich eigentlich für mindestens 25 Kleinkinder in meiner Obhut ausgebildet bin. Theoretisch weiß ich alles über Trotzphasen, doch diese Vierjährige, die mit geballten Fäusten in den Hosentaschen, die mütterliche Ungerechtigkeit lautstark wie vor dem Amnesty International Board anklagt, lässt den Geduldsfaden reißen. Schnapp. Professionell geht anders.

 

 

Das Andere, was ich „kann“- jedenfalls wenn man Herrn Leitz Glauben schenkt - ist, über Gott Bescheid zu wissen. Als ob das so einfach wäre. Denn der hat sich noch nie auf ein Blatt Papier zwängen zu lassen. Klar, Psalmen-Exegese und Eschatologie, ich habe sie mit Bravour gemeistert. Ich fand mich im Dschungel des griechischen Urtextes zurecht, und auch die Abschlussarbeit wurde mit voller Punktzahl bewertet. Aber als Experte was den Allerhöchsten angeht, würde ich mich bestimmt nicht bezeichnen.

 

Gefühlt ist er heute unberechenbarer als damals in meinen Zwanzigern. Wilder. Ungezähmt, weniger schwarz-weiß und nie einzufangen. Der Zweifel kommt noch immer zu Besuch und stellt die alte Frage mit dem gleichen Stirnrunzeln: „Sollte Gott gesagt haben?!“ Als ich dieser Tage für eine Predigtserie mit Achselschweiß die Radiergummi-Mütze vom Bleistift kaute (eklig!) weil mir partout nichts Geist-Reiches einfallen wollte, rief Oma Kirchner verständnislos: „Aber Kind, du hast das doch gelernt!“

 

 

Tja, die schöne deutsche Eigenart. „Ohne Schein kein Sein“, – und ich spüre in letzter Zeit, ich bin ganz schön deutsch. Stecke Menschen gerne in Boxen, weil es dann ordentlich aussieht und immer aufgeräumt. Vielleicht sollte ich mal wieder einen freundlich aus seiner Box locken und fragen: Und was kannst Du sonst noch?

 

Oder einfach ausprobieren, für was ich keinen Schein habe. Weil ich dort, wo ich kein Diplom habe, ein unbeschriebenes Blatt bin. „Mach einfach“, lacht die Neugier.

 

 

Heute Morgen bin ich über einen in der Bibel gestolpert, der nannte sich Prediger, aber dafür hatte er auch keinen Schein glaube ich (ist also quasi laut dem deutschen Beamten im Arbeitsamt nicht qualifiziert solche Ratschläge zu erteilen). Gott sei Dank hat er’s trotzdem getan. Der meinte, das Wichtigste bleibt auf jeden Fall immer ein Lernender zu bleiben, denn die die glauben, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen, sind die wahrhaft Dummen.

Vielleicht sollten wir Deutschen uns das ab und zu zu Herzen nehmen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Erdmute (Mittwoch, 29 April 2020 13:45)

    Sehr treffend! Danke!