Deutschland

 

Ich bin hier geboren. Ein Privileg meinst du? In den frühen Jahren fühlte sich das nicht so an. Alles zwischen den gardinenverhangenen Fenstern und den jeden Samstag gekehrten Gehsteigen schien spießig. Langeweile war Tagesordnung. Aufregendes passierte selten in deinen vier Wänden. Die Großen nannten das: Stabilität. Deine Sprache tönte altbacken und klang in jedem Dialekt peinlich. Englische Stars sangen cooler. Ich mochte royalen Glamour. Mit Angela Merkel ließ sich kein Staat machen. Ich fremdschämte mich unserer Geschichte, als ich Mord und Todschlag verstand. Und deines Verstummens.

 

So wurde ich eine, die auszog. Die Sehnsucht lockte mich gen Osten, die Neugier nach Westen. Ich überschritt die Grenzen. Ging, wohin der Wind mich trieb. Ich breitete einfach die Flügel aus und verließ dich wie einen sitzengelassenen Lebensabschnittsgefährten.

Ich dachte nicht daran, zurückzukehren. Bis ich schließlich länger dort als hier gelebt hatte. Da starb eines windigen Morgens urplötzlich das Fernweh. Es war nicht krank gewesen und so war sein Tod ein Schock.

 

Und nach reiflichem Überlegen – denn ich war ja inzwischen eine Vernünftige mit vierköpfiger Verantwortung – spülten wir an deinen Strand. Ich spürte Heimat unter meinen Füßen und hatte Tränen in den Augen. Es fühlte sich tatsächlich an wie nach Hause kommen und ich bin froh, dass du nicht nachtragend bist.

Irgendwie habe ich den Kritikgeist einer langen Pubertät hinter mir gelassen. Habe verstanden, dass Heimatboden nicht perfekt sein muss, um Wurzeln zu schlagen. Natürlich kämpfe ich wieder mit deiner Bürokratie und mit deiner Kleinbürgerlichkeit. Mit dem, dass Geld dir so unglaublich wichtig ist und so wenige etwas teilen wollen. In vielem hinkst du noch immer deinem Ideal hinterher, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Doch diesmal kann ich irgendwie gnädiger mit uns allen sein. Entdecke andere Seiten. Wahrhaft liebenswerte. Schrullige, in denen ich mich komischerweise auch geborgen fühle. Fürsorgliche. Ein guter Boden zum Verwurzeln für mich und die in meinem Schlepptau.

 

Jetzt bist du nicht mehr lediglich das Land, in dem ich zufällig geboren wurde (unglaublich privilegiert, du hattest mal wieder so recht, alte Besserwisserin!) Jetzt bist du Wahlheimat. Meine Herzens-Antwort ist zum allerersten Mal: Ja, ich will. Bei dir zu Hause sein. Mich in deine Erde graben und mit dir in den Himmel wachsen. Ich will Steuern bezahlen und die Mutter-Kind-Kur abfeiern, die mir jetzt alle vier Jahre zusteht.

 

Ein lebloser Seesack Fernweh rollt seit 673 Tagen Endlosschleife auf dem Kofferband im Stuttgarter Flughafen. Ich habe nicht vor, ihn abzuholen.

 

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