Flügel-Momente

 

In der Mitte des alten Buches singt Einer mit bildschönen Worten von der Geborgenheit unter göttlichen Flügeln.

 

Es gab mal einen Moment, da hing das Leben nur noch an einem seidenen Faden. Meins, und das des winzigen Kindes, das ich gerade geboren hatte. Während es schrie und das Leben mit klitzekleinen Fäusten beim Schopfe packte, schwebte ich zwischen Himmel und Erde und es war unklar, wo mein Platz sein würde. Doch die Uhr zeigte noch Lebenszeit und ich schlug schließlich die Augen auf zu einer Realität, die nicht mehr meine war. Ich trieb auf einem endlosen Meer von Schmerz und Angst. Meine Stimme war unhörbar, mein Körper leblos. Maschinen übernahmen seine Rolle und die Ärzte flüsterten am Bett.

 

Ich kannte sie vom Hörensagen, deine Flügel, doch hier an der steril-weißen Wand, die vom Biepen der Maschinen widerhallten, erschienen sie plötzlich aus dem Nichts, realer als alles andere: zwei übermächtige Flügel. Wie von einem Meister in Stein gehauen.

Dies war mein Flügel-Moment.

 

Man sagt Patienten wie mir nach, dass sie halluzinieren. Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Vielleicht belächeln einige dies alles, nennen es einen Schutzmechanismus oder einen Morphium-Höhenflug. Nennt es, wie ihr wollt.

Denn mir wird nichts und niemand jemals den Anblick seiner starken Flügel wieder nehmen. Ich habe sie gesehen. Mein Blick wich nicht von ihnen, wollte sich bergen, sich an sie klammern. Meine Todesangst kroch unter sie. Sie haben mein verschrecktes Herz sicher versteckt und meine heimatlose Seele in Schutz genommen, bis mein Körper ihnen beiden wieder Wohnung geben konnte.

 

Mitten im Land der Todesschatten bedeckten deine Flügel mich unendlich sanft und wunderbar mächtig und brachten mein Zittern zur Ruhe, heilten Schmerz und Schrecken und meine Zukunft. Und wie der Sänger in den alten Schriften jubilierte ich schließlich staunend, vom tosenden Meer an Land gespült: „Er hat mich gerettet!“

 

Jetzt hat das Leben mich wieder und der Alltag ist zurückgekehrt. Und am liebsten würde ich Flügel im ganzen Haus aufhängen, um mich für immer zu erinnern. Und um mit meiner Sehnsucht neue Flügel-Momente zu schaffen. Denn ich will deine allmächtigen Flügel nicht nur für die Todesstunden, sondern auch für jeden einzelne der Lebendigen. Mitten und gerade dort, wo der Alltag tobt und es sich nicht immer flügelleicht und geborgen anfühlt. Dort muss ich deinen Flügelschlag hören, will ihn vor Augen haben, im Herzen tragen.

 

Heute kämpfe ich mit Alltagsriesen statt Todesengeln. Doch auch sie lassen mich fürchten und flüchten. Unter deinen Flügeln will ich mich verstecken. Sie sind mein Schutz. Ich mag laufen oder wie gelähmt sein. Es ist egal. Jauchzend, schweigend, schlaflos, geschäftig, mürrisch oder achtsam. Egal. Deine Flügel sind mir sicher. Immer. Warmer Atem deiner Gegenwart. Stille Ruhe. Allmächtige Schwingen decken mich zu.

 

Niemand kann meinem Leben Schwerelosigkeit versprechen, denn Kummer, Herzeleid und Todesnot wiegen immer schwer. Doch ich weiß, wovon du singst, alter Sänger. Was dein Herz beglückt. Und ich will aus voller Kehle miteinstimmen. Mich an den Flügel setzen und mit meinem Leben eine weitere Strophe komponieren.

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