Totenstill und lautstark

 

 

Die Straßen sind menschenleer. Im Garten höre ich nur Vogelgezwitscher. Der Alltag schweigt und hat Langeweile. Der Spielplatz liegt verwaist und die Baustelle nebenan ruht.

 

 

Noch nie war es um mich so gespenstisch still. Und noch selten so unerträglich laut.

 

 

Denn die Nachrichten schreien durcheinander, die Zahlen überschlagen sich. Selbst die jahrelangen Schweiger posten und twittern auf Social Media. Die virtuellen Drähte laufen heiß mit ungehörten Neuigkeiten. Statistiken aus aller Herren Länder überrollen mich, Hiobsbotschaften vom Ende der Welt klagen durch den Bildschirm. Meine Kinder rufen ungeduldig nach dem Mittagessen, während Todesnachrichten, Existenzangst und Interviews mit überlasteten Medizinern um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Politiker wollen gehört werden und selbsternannte Propheten kündigen den Weltuntergang an.

 

 

Es ist laut. So laut. Und ich will mir die Finger in die Ohren stopfen. Denn mein Herz ist verschreckt und kann die Mute-Taste nicht finden.

 

 

Ich begreife, für diese Zeit muss es neue Gesetze geben. Auch in meiner kleinen Welt. Sonst werde ich von dieser Flut mitgerissen. Und so verabschiede ich kurzerhand eine neue Ordnung. An alle Schreier, Vorlauten, Nachrichtensprecher, Panikmacher, Facebook und Warner: Ich leihe euch mein Ohr. Doch nur zu festgesetzter Stunde. Und fast erstaunt stelle ich fest: Man hält sich an meine Gesetzesänderung und jeder redet nur noch, wenn er gefragt wird.

 

 

So. Stotternd kommt der Gedankenkreisel zum Stehen. Die Seele ist nicht mehr so atemlos. Die Trauer hat jetzt Platz. Andere Wahrheiten. Lautlose Gebete. Frühlings-Schönheit. Stille. Gott setzt sich leise zu mir. Wir sitzen am Küchentisch und schweigen.  Er ist ganz der Alte. So wie immer, unerschüttert. Standfest. Verlässlich. Unerschrocken. Ernsthaft. Fürsorglich. Gut tut sie, seine Gesellschaft.

 

Und nachdem wir eine Weile so gesessen haben, spüre ich es. Vielleicht bin ich mit keinem Virus infiziert, aber mit Sprachlosigkeit. Bin verstummt zwischen dem Pandemie-Liveblog, dem Erschrocken-Sein, den Experten und Stimmungsmachern. Fragte mich, ob nicht schon alles gesagt sei. Oder es schon genug gibt, die ungefragt ihre Meinung kundtun.

 

 

Jemand widerspricht. Vielleicht ist es die Stille. Vielleicht ist es Gott. Vielleicht das kleine Mädchen, das in seinem Garten auf der Schaukel unbekümmert singt. Oder der Klang der Kirchturmglocke. Vielleicht auch sie alle.

 

Ich finde endlich wieder Worte. Und den Willen meine Stimme zu erheben. Will den Überarbeiteten Mut-Worte zurufen und den Kurzarbeitern. Den Gelangweilten und den Panischen. Den Verzagten und den Infizierten. Und vom Echo meiner Stimme will ich selbst Mut bekommen. 

 

Komm. Los, komm! Ob ich es bin oder du oder es die Spatzen von den Dächern pfeifen, das spielt keine Rolle. Nur, dass sie gehört werden, die Worte der Hoffnung in diesen Tagen der Angst. Reihe dich ein in den Chor! Singen werden wir unter den Fenstern der Alten. Beten vor den Türen der Kranken. Den Himmel bestürmen und nicht aufgeben, bis unser Gebet ohne Unterlass ist.

 

Und eines Tages wird der Gesang unserer Zuversicht dich zum Schweigen bringen, du tödliches Virus. Hörst du es? Hörst du unser Kampflied? Unsere Zukunftsmusik? Wir werden tanzen und träumen und nicht aufgeben, solange noch ein Funke Hoffnung glimmt.

 

Nein, nicht du. Wir. Wir werden das letzte Wort haben. Denn wir glauben an die Auferstehung und das Leben. Für unser Land. Und für diese Welt.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Esther und Albrecht (Sonntag, 01 November 2020 18:54)

    Inzwischen ist es Herbst geworden und die Zustände sind wieder (noch)dieselben. Danke für die Worte der Hoffnung !